Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club e. V. (ADFC)

Unterschriftensammlung für die Verkehrswende Hessen.

Unterschriftensammlung für die Verkehrswende Hessen: Frau auf dem Fahrrad hat gerade unterschrieben und hält ihren Daumen hoch. © Verkehrswende Hessen

Radentscheide in Deutschland

Mit über 50 Bürger- und Volksbegehren rütteln engagierte Menschen in Deutschland die Politik wach und bringen den Radverkehr voran. Mehr als eine Million Bundesbürger:innen haben für besseren Radverkehr Radentscheide ihre Unterschrift geleistet.

Noch vor wenigen Jahren war das Wort „Radentscheid“ außerhalb der Kreise von Radaktivist:innen wenig bekannt. Mittlerweile gehört es zum aktiven Vokabular vieler Stadtverwaltungen und Verkehrsministerien. Es gab in Deutschland bereits mehr als 50 Bürger- und Volksbegehren.

Sie sind zu einer treibenden Kraft für Veränderungen in der Verkehrspolitik geworden und stärken das Fahrrad als nachhaltige Mobilitätslösung. In nur wenigen Jahren haben mehr als eine Million Menschen mit ihrer Unterschrift sichere Bedingungen für das Radfahren in Deutschland gefordert und so die Radinfrastruktur auf die politische Tagesordnung gesetzt.

Es begann 2016 mit dem Berliner „Volksentscheid Fahrrad“, durch den 2018 ein erstes landesweites Radgesetz beschlossen wurde. In nur dreieinhalb Wochen wurden über 100.000 Unterschriften für bessere Radinfrastruktur in der Hauptstadt abgegeben.

Der Berliner Senat hat die Forderungen des Volksentscheid-Trägers Changing Cities wie auch des ADFC, Fuss e. V. und anderer Bündnispartner weitgehend übernommen und diese gesetzlich verankert.

Radentscheide rollen durchs Land

Der erfolgreiche Berliner Volksentscheid Fahrrad löste weitere Radentscheide in ganz Deutschland aus – insgesamt bislang mehr als 50. In Nordrhein-Westfalen fand sich bereits 2017 eine Arbeitsgruppe, die im Sommer 2018 die Volksinitiative „Aufbruch Fahrrad“ initiierte, also den Radentscheid für das Flächenland NRW.

Neben dem Hauptziel, den Radverkehrsanteil auf 25 Prozent bis 2025 zu erhöhen, forderten die Aktivist:innen eine bessere Infrastruktur im ganzen Bundesland und mehr Sicherheit für Radfahrende. „Radentscheide sorgen vor allem dafür, dass das Thema Radfahren in der Öffentlichkeit bekannt und positiv besetzt wird. Dadurch entsteht auch in Bevölkerungsgruppen Interesse und Solidarität, die von einer reinen Verbandsarbeit nicht erreicht würden“, sagt Axel Fell, der Landesvorsitzende des ADFC NRW.

Damit Bürger:innen sich tatsächlich trauen, aufs Rad umzusteigen, sind flächendeckende und gute Radnetze Bedingung. Deshalb wollten die Organisator:innen in NRW die Verankerung ihrer Forderungen in einem Gesetz. Über 200.000 Unterschriften wurden gesammelt – ein Erfolg, der zur Verabschiedung des ersten Fahrradgesetzes in einem Flächenland geführt hat.

Aufbruchstimmung

Auch viele lokale Radentscheide konnten Erfolge verzeichnen. Mit 38.000 Unterschriften startete der Radentscheid Aachen 2019 erfolgreich. „Wir haben gesehen, dass wir politische Ziele auf kommunaler Ebene sehr gut durchsetzen können“, sagen die Initiator:innen des Aachener Radentscheids.

Ähnlich erfolgreich waren auch andere Initiativen: In Rekordzeit und trotz Corona-Lockdown überzeugte der Radentscheid Marl so stark, dass der Stadtrat dessen Forderungen übernahm. „Viele Radentscheide haben den politischen Druck auf die Kommunen erhöht und in wenigen Monaten erreicht, was die Verkehrspolitik im letzten Vierteljahrhundert nicht hingekriegt hat“, sagt Ludger Vortmann. Er arbeitet beim ADFC NRW und hat als Marler den Radentscheid Marl mitorganisiert.

Das Engagement lohnt sich und die Erfolge sprechen sich herum: Aktive in Rostock haben zehn Ziele für eine fahrradfreundliche Stadt formuliert, deren Umsetzung die Bürgerschaft ebenfalls beschlossen hat.

Auch in München und Stuttgart konnten die Bürgerbegehren von Stadträten beschlossen werden. Von kleineren Gemeinden bis hin zu den Millionenmetropolen haben sich engagierte Radfahrer:innen auf den Weg gemacht, Bedingungen für den Radverkehr zu verbessern.

Gesellschaftliche Teilhabe und Engagement zeigten Wirkungen in kleineren Städten wie Groß-Gerau, Freising, Rosenheim, Schwerin, Freiburg und Kassel, aber auch in Metropolen wie München, Frankfurt und Hamburg.

Unzufriedenheit und Frustration der Radfahrenden über schlechte Radwege und ungleiche Verhältnisse im Verkehr haben sich in Engagement und politische Aktion verwandelt.

„Radentscheide sind wichtige Treiber für die kommunale Mobilitätswende: Sie mobilisieren Menschen und tragen das Thema Radverkehr in Gesellschaft und Medien. Politik und Verwaltung müssen sich an neuen Maßstäben beim Ausbau guter Radinfrastruktur messen“, sagt Rebecca Heinz, Landesvorsitzende ADFC NRW.

Der Radentscheid Stuttgart konnte 35.249 Unterschriften übergeben.
Der Radentscheid Stuttgart konnte 35.249 Unterschriften übergeben. © Radentscheid Stuttgart

Der Weg zum Radentscheid

  • Bürger- oder Volksbegehren? Ein Bürgerbegehren ist ein Antrag auf Durchführung eines Bürgerentscheides auf kommunaler Ebene. Werden Unterschriften auf Landes oder Bundesebene gesammelt, spricht man von einem Volksbegehren bzw. einem Volksentscheid.
  • Wie funktioniert es? Wer ein Bürgerbegehren durchführen möchte, muss ein solches zunächst bei der Stadtverwaltung anmelden. Hierzu gehören eine klare Fragestellung, eine Begründung und eine Kostenschätzung. Ist das Bürgerbegehren zugelassen, beginnt die Unterschriftensammlung.
  • Unterschriften sammeln Wie viele, wie lange? Die Regeln zur Anzahl der zu sammelnden Unterschriften und den Fristen bestimmt jedes Bundesland selbst, weitere Verfahrensregeln sind in der jeweiligen Gemeindeordnung niedergelegt. Ist die erforderliche Anzahl der Unterschriften fristgerecht erreicht, reicht man diese bei der Stadtverwaltung ein.
  • Vom Bürgerbegehren zum Bürgerentscheid Die Stadt- bzw. Gemeindevertretung prüft die formelle Zulässigkeit. Danach entscheidet sie darüber, ob sie die Forderungen des Bürgerbegehrens übernimmt. Geschieht das nicht, kommt es zu einem Bürgerentscheid.
  • Urnengang Ein Bürger- bzw. Volksentscheid wird üblicherweise wie eine Wahl durchgeführt – die Mehrheit aller Wahlberechtigten entscheidet.

 

Hürden und Herausforderungen

Doch nicht jedes Bürgerbegehren verläuft reibungslos. Die Aktivist:innen der Radentscheide
Jena und Erfurt konnten ihre Forderungen zwar durchsetzen, das gelang jedoch erst nach langen Verhandlungen mit den Stadtverwaltungen. Formelle Fehler, wie Mängel bei der Kosteneinschätzung, können zur Ablehnung des Bürgerbegehrens führen – auch das war bei einigen der Fall.

Hürden gab es ebenfalls in Hessen: Mehr als 70.000 Unterschriften sammelten die Vertreter:innen des Radentscheids „Verkehrswende Hessen“, doch die Landesregierung hat das Volksbegehren als nicht verfassungskonform eingestuft. Die Organisator:innen legten eine Beschwerde ein und setzen weiterhin auf Dialog mit der Regierung.

„Das Engagement lohnt sich trotzdem“, sagt Robert Wöhler vom Volksbegehren „Verkehrswende Hessen“. Bürger- und Volksbegehren könnten Veränderungen und Fortschritte bewirken, auch wenn sie ihre primären Ziele nicht erreichten. „Der Druck seitens der Bürgerinnen und Bürger zwingt die Politik zum Handeln. Die Erfolge der Radentscheide, zum Beispiel in Darmstadt und Frankfurt, lassen sich an den verbesserten Ergebnissen beim ADFC-Fahrradklima-Test ablesen und sind auch auf den Straßen gut sichtbar“, so Wöhler.

Als nicht zugelassenes Bürgerbegehren war der Radentscheid in Darmstadt sehr erfolgreich und erreichte viele Verbesserungen für Radfahrende im Verkehr. Unabhängig von der Frage der Zulässigkeit haben die Initiator:innen des Radentscheids begonnen, mit der Stadt Darmstadt über die Umsetzung ihrer Forderungen zu verhandeln.

Die Stadt hat bereits zusätzlich in den Radverkehr investiert, Stellen für die Radverkehrsplanung geschaffen und zusammen mit dem Radentscheid-Team eine Radstrategie verabschiedet. Die Ergebnisse wurden im ADFC-Fahrradklima-Test sichtbar: Die Stadt sprang in der Klasse der Städte mit über 100.000 Einwohner:innen von Platz sieben auf Platz drei.

Verkehrswende flächendeckend

Eine weitere Erkenntnis des ADFC-Fahrradklima-Tests: Die Verkehrswende ist auf dem Land ins Stocken geraten. Die Förderung des Radverkehrs im ländlichen Bereich stagniert, dabei ist das Potenzial groß. Da ist auch Bayern keine Ausnahme – mehr noch: Die Folgen sind im größten Flächenland der Bundesrepublik besonders sichtbar.

Eigentlich gilt Bayern in Sachen Radentscheide als besonders erfolgreich. Elf Städte haben bereits Bürgerbegehren durchgeführt, doch die Umsetzung komme kaum voran, erklärt Bernadette Felsch. Sie ist die Sprecherin des Radentscheids Bayern und Vorsitzende des ADFC Bayern.

„Deshalb haben wir in Bayern kein Radwegenetz, sondern einen sehr löchrigen Flickenteppich mit unterschiedlichsten Radwegen. Über die Hälfte der Landstraßen bieten keinen Radweg und in kleinen Orten muss meist auf dem Gehweg geradelt werden“, so Felsch. „Solange Standards, Verfahren und Zuständigkeiten nicht klar geregelt sind, gehen Planung und Bau von guter, sicherer Radinfrastruktur viel zu langsam voran. Deshalb brauchen wir ein wirksames Radgesetz“, sagt sie.

Doch im Juni erklärte der bayerische Verfassungsgerichtshof den Radentscheid Bayern für unzulässig – und die bayerische Staatsregierung beschloss im Juli ganz schnell ihr eigenes Radgesetz.

Das Radentscheid-Bündnis in Bayern nennt das Gesetz unzureichend und kritisiert den Umgang mit dem Volksbegehren. Sie wurden als Initiator:innen – im Gegensatz zu den Radentscheiden in NRW und Berlin – nicht am Radgesetz beteiligt. Selbst die versprochene Verbändeanhörung habe nicht stattgefunden. Ergebnis: Ein relativ unambitioniertes Gesetz, das „gerade mal auf 91 Meter Radweg pro Jahr und Gemeinde in Bayern kommt“, so Felsch.

Gesellschaftliche Teilhabe

Noch 2017 hatte sich die bayerische Staatsregierung das Ziel gesetzt, den Radverkehrsanteil bis 2025 von zehn auf 20 Prozent zu verdoppeln. Die Zahl stieg aber um lediglich ein Prozent. Für viele Menschen war klar: Sie  wollen nicht mehr auf die nächste Legislaturperiode warten, sondern die Verkehrswende – auch angesichts der Klimakrise – selbst in die Hand nehmen.

Das gilt für über eine Million Menschen. Sie haben in wenigen Jahren mit ihrer Unterschrift die Radentscheide unterstützt – trotz Schwierigkeiten, umständlicher bürokratischer Hürden, Corona-Maßnahmen und Lockdowns. Das immense ehrenamtliche Engagement zeigt, dass die Zeit des passiven Zuschauens für viele Menschen der Vergangenheit angehört.

Die demokratischen Instrumente sind vorhanden und werden von Radaktivist:innen innerhalb und außerhalb des ADFC genutzt, um Veränderung voranzubringen.
Srdjan Tošić

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